Gesten Gestalten
Spielräume zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Interdisziplinäres Symposium an der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy". 14.–16. Januar 2016.
Vortrag Irina Pauls
Die körpernahe Musik von Carl Orff im zeitgenössischen Tanz – inszeniert von Irina Pauls mit Studierenden des Carl Orff Institutes der Universität Mozarteunm Salzburg
Der Körper erfindet selbst seine eigene Phrasierung durch die ihm innewohnende Geste. Zeitgleich entsteht über das Rhythmische eine starke Beziehung zwischen Tanz und Musik in der Zusammenarbeit der Tänzerin Maja Lex mit dem Komponisten Carl Orff. Hier geht es um die „Regeneration der Musik von der Bewegung, vom Tanz her“. Wie wirken diese Entwicklungen auf die Freiheit und die Ausdruckskraft der Geste im choreografischen Werk?
Ich sehe mich selbst als Choreografin in der Richtung Tanztheater.
Ich stelle heute eine Arbeit vor, die ein Experimentierfeld für mich bedeutet.
Es ist eine Arbeit mit Studierenden der Elementaren Musik- und Tanzpädagogik, also nicht mit Tänzern, und darin liegt für mich die Würze.
In Vorbereitung auf diese Tagung habe ich mich gleich hervorgetan und sagte, ich habe da eine Inszenierung in Arbeit, die will ich zeigen. Die zirkuliert um das Thema.
Das hätte ich sehr gern in einer Lecture Performance gezeigt, denn ich sehe mich selbst dabei als Teil einer Versuchsanordnung. Das ließ sich leider nicht realisieren.
Deshalb nun eine kurze Einführung in meine Beweggründe. Sie muss leider völlig an der Oberfläche bleiben. Ich möchte im Wesentliche Ausschnitte aus der Inszenierung mit den Studierenden zeigen, denn das Subjekt liegt unmittelbar in der Bewegung und der Musik.
Zur Begrifflichkeit der Geste für mich:
Jede bewusst erzeugte Bewegung des menschlichen Körpers ist für mich eine Geste. Jede Geste hat für mich einen expressiven Wert., und ist somit tief an die individuelle Körperlichkeit gebunden. Als Choreografin verstehe ich Tanz als eine Aneinanderreihung von Gesten in Raum und Zeit.
Meine Tanzausbildung begann ich an der Palucca Schule in Dresden. Mit zehn Jahren ging ich weg von zu Hause und lebte im Internat, denn ich wollte tanzen, mich selbst mit meinem Körper ausdrücken.
Die Aufnahmeprüfung war für mich sehr verheißungsvoll. Gret Palucca, die legendäre Ausdruckstänzerin, steckte uns Kinder mit ihrer Energie und Bewegungsfreude an und wir improvisierten, während sich die Pianistin, die uns begleitete, geradezu in die Tasten warf. Die vielen rhythmischen Übungen mit Klanggesten und Sprachklang beflügelten meinen Bewegungswillen.
Heute, nach so vielen Jahren meiner choreografischen Arbeit, finde ich zurück zu diesem Ursprung und suche nach der besonderen Verbindung von persönlichem Ausdruckswillen und Rhythmus.
Wie war der Weg?
Wir kennen aus der Tanzgeschichte die verzweigte Entwicklung, die von fortwährender Auseinandersetzung um die Beziehung von Musik und Tanz geprägt ist.
Ein Meilenstein legte die Ausdruckstänzerin Mary Wigman. Sie stellte ihr persönliches Mitteilungsbedürfnis in den Vordergrund ihres Tanzes. Der Kritiker Wolfgang Schumann schreibt dazu im Februar 1925 im Artikel „Die Geburt des Tanzes“ :
„Ein Symptom ihrer (Mary Wigmans) Kunst ist der Abbau der Musik. Jaques Dalcroze ließ Bachsche Inventionen Notenwert für Notenwert hopsen. Es war der Gipfel der Lächerlichkeit: Tanz als kindliche Musikillustration. Mary Wigman hat schon ohne jegliche Musik getanzt und wendet sich neuerdings immer zielsicherer der „Geräuschmusik“ zu, welche nicht anderes ist als eine „sinnleere“ Begleitung. Der Tanz erwacht zur Selbstständigkeit.“(1)
Der Sprung in die 1960ger Jahre nach New York macht die endgültige Loslösung des Tanzes von der Musik in der Zusammenarbeit des Komponisten John Cage mit dem Choreografen Merce Cunningham deutlich. 1969 sagt Cunningham: „Vielen Menschen fällt es schwer, zuzugeben, dass der Tanz abgesehen von der Zeit und den zeitlichen Einteilungen nichts mit der Musik zu tun hat.“ (2)
Welche Positionen haben sich im zeitgenössischen Tanz und für mich als Choreografin daraus ergeben?
Der Körper erfindet selbst seine eigene Phrasierung durch die ihm innewohnende Gestualität. Denn, die äußere Form einer Geste ist weit weniger wichtig, als die Möglichkeiten, die ein Körper aus seiner Tiefe hervorbringen kann und damit der Bewegung die Qualität verleiht.
Es geht um das innere Bewegungsverständnis des Einzelnen, die eigene Wahrnehmung, das In-sich Seins. Dabei lassen Gewicht und Fluss des Körpers in Zusammenhang mit der Muskelentspannung eine Sensibilität zu, die nicht durch äußere Vorgaben geblockt werden soll.
Nach vielen Jahren choreografischer Uraufführungen an deutschen Stadttheatern begann ich 2007 freischaffend zu arbeiten. Diesen Einschnitt nutze ich, um meine künstlerischen Positionen zu überdenken.
Was war nun mit dem Rhythmus, der mich als Kind so stark zu Bewegung angeregt hatte, mit dem Schlagwerk und der daraus entstehenden Dynamik und Energie, mit dem Puls, mit dem Beat, in den sich der Körper fallenlassen kann? Welche Kraft hat die so hoch angesehene individuelle Körpergeste innerhalb der festen Phrasierung?
Mein künstlerischer Weg führte mich an die Universität Mozarteum nach Salzburg, zur Performancegruppe des Carl Orff- Institutes, „ Das Collectif“. Die Gruppe hat sich 2007 gegründet und setzt sich aus Lehrenden und Studierenden zusammen. Sie suchten einen Choreografen, offen für die Synthese von Körper, Musik und Sprache.
Nun begegnete mir zum zweiten Mal der Komponist Carl Orff. Meine erste künstlerische Auseinandersetzung mit seinen „Carmina Burana“ am Theater Heidelberg 2002 hatte mich von äußerst starker Zurückhaltung seinem Werkes gegenüber zu großer Begeisterung dafür geführt.
In Vorbereitung auf die von mir verlangte Inszenierung stieß ich auf die Arbeitsweise der Güntherschule in Münschen in die 1920ger Jahren.
Über das Rhythmische entstand dort eine starke Beziehung zwischen Tanz und Musik. Carl Orff forderte die Tänzerin Maja Lex zu Tanz-Improvisation auf und lies sich von der Bewegung her musikalisch inspirieren. Maja Lex über Orff 1980 „ Seine Urmusikalität elektrisierte alle“ .
Also in der Zeit, in der Mary Wigman sehr bekannt war und in der Tanzszene überall nachgeahmt wurde profiliert sich ein gänzlich anderer, prägnanter rhythmischer Tanzstil.
In der Tanzkritik der Zeitschrift „Der Tanz“ heißt es 1930 von Joseph Lewitan dazu:
„Herrlich, wie frei auf dem Boden des neuen Tanzes alles Epigonenhafte vermieden wird, wie frei von Wigman und sonstigen Einflüssen ein positiver, lebensbejahender Elan in Tanz umgesetzt wird, wie eine rhythmische und technische Exaktheit mit eigenen Mitteln erreicht wird...“ Und Elisabeth Selden fasst es 1935 in „The Dancers Quest“ so zusammen: „ man became a pattern, the dance became music, music became plastic space.“
So angefüttert, begann ich in Salzburg mit der Arbeit , denn genau das war mein Thema:
Wie kann sich individuelle Körperlichkeit aus der eigenständigen Haltung des zeitgenössischen Tanzes heraus mit den starken rhythmischen und perkussiv-repetitiven Elementen der Komponisten Carl Orff verknüpfen? Entsteht für mich eine künstlerische Erweiterung, eine Vertiefung der körperlichen Geste?
Die Begeisterung an dieser Fragestellung hat bereits vier Jahre angehalten. Die Mitgleider des „Collectifs“ haben mit mir lange gemeinsam am Tanzstück „Veni, Veni, Venias“ gearbeitet, bis die Orffschen Phrasierungen wie eine Membran, wie ein umhüllendes und verbindendes Spannungsnetz dem Körperrhythmus immer mehr entgegenkamen.. Besonders inspirierend für mich: die Möglichkeit einer erweiterten musikalischen Arbeit mit den Studierenden der Elementaren Musik- und Tanzpädagogik.
Das Tanzstück „Veni, Veni, Venias“ ist inspiriert von prägnanten Kompositionsprinzipien aus den „Carmina Burana“ von Carl Orff. Einzelne Motive des Werks werden herausgelöst und in den Vordergrund gestellt. Sie werden auf das Elementare reduziert, wieder erweitert, und spielerisch bearbeitet.
(Das choreografische Konzept steht im Kontext zur Entstehungszeit der Liedtexte aus dem 11./12. Jahrhundert und zieht daraus Konstellationen und Tanzformen. Das „Rad der Fortuna“ bildet das übergreifende Thema: Werden und Vergehen, Aufstieg und Fall, das Auf und Ab des menschlichen Schicksals.)
Daraus werde ich Ihnen nun einige Beispiele zeigen.
Aufnahme aus Salzburg, Juli 2015, Großes Studio des Mozarteums, tanzen singen und spielen Studierende der EMP im Bachelor Jahrgang 2, 3 und 4.
Hervorheben der Kompositionsprinzipien, dabei:
- Loslösung von Tonalität, Melodie
- Arbeit mit der rhythmischen Struktur, dem Perkussiven, den Pattern
- Reduktion auf das Elementare der Komposition
- Carmina Burana drei Teile, Auswahl folgt der Reihenfolge der Orffschen Komposition
Beispiel:
- Nr. 2, Sprachrhythmus als Bewegungsimpuls und Beat als feste Tempovorgabe
Fortune plango vulnera, weil unterbelichtet, für mich interessanter
Anfang–4.30 - Impuls der Körpers, dann weiterlaufen lassen, Original-Melodie
Korrespondenz zwischen Gesangs-und Bewegungstempo
09:10–12.30 - Nr. 7, Uf dem Anger, Spiel 3/4 zu 4/4
Bewegungs-Impuls auf 1 = wieviel Zeit steht für den Körper zur Verfügung bis zur nächsten 1, welche Bewegungen löst das aus
18:00–20:10 - Nr. 14 In Taberna , ostinato
Freien Fluss in der Gruppe im Raum in Kombination mit dem Pattern
31:00–34:20 - Nr. 17 Liebeshof, Zitat (als Orffsches Komositionsprinzip)
gebratene Schwan/ individuelle Geste zur Originalkomposition
Stetit puella
48:00–52:00 - Nr. 24 Oh Fortuna
Schluß als musikalische Reduktion
1:00:30
- Wolfgang Schumann „Die Geburt des Tanzes“
In: Kunstwart und Kulturwart, Jg. 38, H.5, Feb 1925, S 228 und 229 - Joseph Lewitan „Der Tanz“
1930 - Elisabeth Selden „The dancers Quest“
1935, essays on the Aesthetic of Contemporary Dance, Berkeley/Cal. - Maja Lex „Die Entstehung des Elementaren Tanzes“
1990