ShortCuts & U-Turns
Irina Pauls and 30 Years of Dance.
2016 jährt sich das Bühnenjubiläum der Choreographin Irina Pauls zum 30. Mal. Das ist der Anlass, um anhand ihrer konkreten dreißigjährigen künstlerischen Entwicklung in Ost- und Westdeutschland die Tendenzen und Umbrüche der Kunstsparte Tanztheater künstlerisch zu beleuchten.
Das Projekt besteht aus einer abendfüllenden Tanztheaterproduktion in Form einer szenischen Retrospektive ("ShortCuts & U-Turns"), in der die Choreographin ihr eigenes Schaffen und ihre künstlerischen und kulturpolitischen Prägungen aus heutiger Sichtweise reflektiert.
Einen erweiterten Kontext bieten moderierte tanzhistorische Filmnächte mit den Gästen Reinhild Hoffmann und Arila Siegert(ergänzend kommen Vertreter der Tanz- und Theaterwissenschaft hinzu). Dieser notwendige Perspektivwechsel zeigt die verschiedenen Positionen im gesamtdeutschen Tanztheaterschaffen aus der künstlerischen Praxis und bietet dem Besucher eine seltene Möglichkeit sich gemeinsam mit Praktikern und Theoretikern dem ost- und westdeutschen Tanztheater anzunähern und mit ihm auseinanderzusetzen. Die Zusammenstellung des Filmprogramms wird die künstlerische Leiterin des Tanzfilminstituts Bremen, Heide-Marie Härtel, in Zusammenarbeit mit dem Tanzarchiv Leipzig übernehmen. Für den Zuschauer werden die Ausschnitte so aufbereitet, dass er erhellende Einblicke in die Entwicklung des gesamtdeutschen Tanztheaters nehmen kann. Pauls möchte mit ihrem Projekt "ShortCuts & U-Turns" gemeinsam mit ihren künstlerischen Arbeitspartnern und den Gästen zur offenen Reflexion über die Tanzentwicklung in Ost- und Westdeutschland anregen, zum Austausch einladen und das „Niemandsland" ostdeutsches Tanztheater einer Neubetrachtung öffnen.
Szenische Retrospektive: ShortCuts & U-Turns
Für die szenische Retrospektive ihres künstlerischen Werdegangs hat Irina Pauls aus ihren bis heute über 80 entstandenen Produktionen 9 Szenen exemplarisch wiederaufgenommen. Dafür arbeitet sie mit Darsteller/innen zusammen, die sie in verschiedenen Arbeitsperioden begleitet haben. Wichtiger Bestandteil der szenischen Retrospektive bildet das dokumentarische Filmmaterial aus den 9 ausgewählten Stücken.
Eine Projektionswand teilt den von zwei Seiten bespielbaren Bühnenraum. Von der ersten Seite aus sieht der Zuschauer auf einen Filmausschnitt einer Inszenierung, aus der auch die Choreografie der davor live agierenden Darsteller/innen stammt. Es gibt dazu keinen Ton, so dass die Bildsprache in den Vordergrund rückt. Nach dem Wechsel des Publikums auf die Gegenseite wird die gleiche Choreografie noch einmal ohne Film, also vor der weißen Leinwand, zu sehen sein. Der dazu verwendete Original-Sound wirft den Fokus auf das Zusammenspiel von sich bewegenden Tänzer/innen mit der Musik. Die einzelnen Darsteller treten deutlich hervor und werden mit ihren Körpern zum Übermittler. Tänzer/innen aus 30jähriger gemeinsamer künstlerischer Arbeit bringen den Zuschauern das Gespeicherte nahe.
Das Gespeicherte: gemeint ist zum einen die jeweilige individuelle Körpersprache eines Tänzers, zum anderen die darin gespeicherten Informationen zu Bewegungsqualitäten, die ein Tänzer im Laufe seiner tänzerischen Entwicklung kennenlernt, abspeichert und sich zu eigen macht. Die Tänzerkörper erfahren also u.a. eine Prägung durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Choreographen. Umgekehrt hat diese Prägung auch Auswirkung auf die direkte Zusammenarbeit mit einem Choreographen und kann dessen Bewegungsqualitäten beeinflussen.
Dieses Prinzip eines Rundganges kann der Zuschauer fortwährend durchlaufen. Er konnte sich auch entscheiden, ob er die szenische Rauminstallation nach jeweils einer Sequenz verlassen oder bis zum Ende der 8 Runden verweilen möchte. Dieser neue Zugriff auf die Tanzstücke macht den künstlerischen Fokus deutlich: Die Verwendung bzw. der Einsatz von Musik im Tanztheater. Durch die Art und Beschaffenheit der Inszenierung werden dem Zuschauer die Praktiken des Tanztheaters nahegebracht und somit unmittelbar erfahrbar: das Bruchstückhafte, das filmische Montagedenken, das Fragmentarische im Wechsel von Musik, Stille, Stimme und die unterschiedlichen Körperbiographien der Tänzer/Innen.
Das historische Filmmaterial wurde dokumentarisch durch den Blick von Thilo Neubacher aufgearbeitet und ermöglicht dem Zuschauer eine zeitliche und räumliche Zuordnung. Besonders (aber natürlich nicht nur) für das Publikum, welches die Stücke und das Ensemble von Irina Pauls in Erinnerung hat, gab es eine Wieder- und Neuentdeckung ihrer Arbeiten und zeigte die Vielfalt ihrer Inszenierungen.
Auch für die Künstlerin selbst entsteht durch die „Neu-Einstudierung“ ein Perspektivwechsel: Sie hat aus einer heutigen Position, einer „Draufsicht“, ihr eigenen „altes“ Material neu erschlossen!
Irina Pauls im Interview zu ihrer Arbeit „ShortCuts & U-Turns“
Leipzig im August 2016
Das Interview führte Juliane Raschel
Irina Pauls, eine szenische Retrospektive, Premiere im August. Wolltest du schon immer dein 30jähriges Bühnenjubiläum begehen?
Ich wollte überhaupt gar kein Jubiläum begehen, weil ich denke, das ist eine rückwärtsgewandte Haltung zum eigenen künstlerischen Prozess. Und ich habe mich immer mit Freude neuen Arbeitszusammenhängen zugewandt. Ich bin kein Choreograph, der so eine Cocon-Situation in immer gleichen Arbeitszusammenhängen braucht um daraus die Kraft zu ziehen, über viele Jahre zu schaffen. Insofern ist es eigentlich ein Ereignis aus der Geschichte heraus, weil es ganz konkret mit der Teilung Deutschlands zu tun hat.
Auf dem Gebiet, wo ich arbeite, Tanztheater, habe ich ganz unterschiedliche Entwicklungen in Deutschland beobachtet. Dadurch, dass ich selbst in der DDR gearbeitet habe, nach dem Fall der Mauer in der ehemaligen DDR und dann auch in der ehemaligen alten Bundesrepublik, habe ich immer wieder festgestellt, wie unterschiedlich unser Verständnis von Tanztheater ist und wie verschieden Begrifflichkeiten verwendet werden. Wir sind stark an Sprache gebunden, Begriffe sind unterschiedlich belegt. Ich fühlte mich oft unverstanden.
War das eine Erfahrung, die du als Leiterin der Sparte Tanz am Staatstheater Oldenburg gemacht hast?
Ich erinnere mich, als ich nach Oldenburg ging 1998. Was uns eigentlich trennt, die Deutschen in beiden Teilen, ist die gemeinsame Sprache. Für die Wiedervereinigung Deutschlands war das ein Hindernis. Wir hätten ansonsten wirklich versuchen müssen, Verständigung zu finden. Indem wir Begrifflichkeiten und deren Bedeutung miteinander klären. Und das war für mich immer ein Thema. Ja, besonders in Oldenburg, meiner ersten Station im „Westen“. Da habe ich viel Lehrgeld bezahlt.
Und um zurück zu kommen auf das Jubiläum: In unserer deutschen Gesellschaft spüre ich eine Entwicklung, die in der DDR entstandene Kunst nicht mehr nur unter „Staatsdoktrin“ abzutun. Künstlerische Arbeiten werden nicht mehr vordergründig unter ideologischem Aspekt eingeschätzt. Dokumentation wird wichtig, die Kunstwerke gehen sonst verloren. Sie sind Teil unserer deutschen Geschichte. Sie machen einen wichtigen Teil unserer Gegenwart aus.
Diese Wendung in der Bewertung war der Anlass für mich zu sagen, ich reflektiere, was ich in meiner künstlerischen Arbeit in dieses vereinte Deutschland mitbringen konnte, was ich im Moment einbringe. Dieser Kontext interessiert mich: die eigene Arbeit in einen größeren Zusammenhang einordnen und für das Publikum sichtbar machen. Das heißt dann auch eine künstlerische Form zu finden, die dieses Thema sinnlich erlebbar macht. So habe ich „ShortCuts“ konzipiert.
Auf deinem bisherigen Weg hast du in Leipzig studiert. Du warst ja nicht die Einzige, hast ja auch andere Leute kennengelernt, andere Künstler, andere Choreographen. Sind sie dir eigentlich wieder begegnet, später, im wiedervereinten Deutschland?
Aus der alten Heimat ... da muss ich sogar lange nachdenken. Und wenn ich lange nachdenken muss, dann heißt das, dass mir sehr wenige wieder begegnet sind. Meines Erachtens arbeiten heute sehr wenige Choreographen noch in ihrem Beruf. Stephan Thoss ist einer davon. Er kommt auch aus der Palucca Schule und ist Choreograph geworden. Und Mario Schröder. Sie sind beide intensiv arbeitende Choreografen mit eigenen Ensembles an Theaterhäusern. Oder Katja Erfurth in Dresden, auch Palucca Schülerin. Aber erstaunlicher Weise sind eben viele aus der Zeit, als ich anfing zu arbeiten und die aus der DDR kamen, heute nicht mehr sichtbar. Das Alter ist ein Grund, natürlich. Wollen wir sagen, wenn ich jetzt 30 Jahre arbeite, sind natürlich Verschiedene, die damals repräsentativ waren, heute nicht mehr aktiv. Aber es ist schon ein ganz entscheidendes Thema, wie Menschen diesen Fall der Mauer erlebt haben, wie sie weiter gelebt haben und in welchen Berufen und Berufsgruppen es eben dann die Chance gab auf einen Neuanfang, wer sich behaupten konnte. Das betrifft ja nicht nur Künstler, sondern viele Menschen, die in der DDR sehr gute und interessante Berufe hatten und dann aufgrund dieser gesellschaftlichen Umstrukturierung plötzlich gar nicht mehr arbeiten konnten. Das hinterlässt Spuren und es hat große Risse in Biographien gegeben und Narben hinterlassen. Und so ist es auch bei den Choreographen. Nicht nur, dass es plötzlich ein Wertesystem gab, dem wir uns zuordnen sollten. Der Begriff Tanztheater war jetzt besetzt mit der westlichen Ästhetik. Du konntest dich behaupten oder wurdest als verstaubt und altbacken gehandelt. Es ist aber immer beidseitig: wie weit war man in der Lage, das anderen Gesellschaftssystem zu durchdringen und zu verstehen, dass es eben nicht mehr so ist, wie es war. Wer ist denn zu solchen großen Bewegungen bereit und letztendlich zieht man ja sein künstlerisches Potential aus dem Sein. Auf einmal stand die Frage: was sind jetzt deine Themen? Was ist das, was du sagen möchtest mit der künstlerischen Arbeit?
Dass da erst einmal alles durchgeschüttelt wurde, dadurch viele aufgegeben haben und keinen Weg für sich mehr sehen konnten in der Arbeit als Choreograf, ja, das ist auch ein Resultat.
Und wie hast du das gemacht? Wie hast du die sogenannte Wiedervereinigung und diese Umbrüche erlebt und in deiner Arbeit verarbeiten können? Du hast ja offensichtlich diesen Schritt machen können, von dem einen System ins nächste. Wie ist dir das gelungen?
Für mich persönlich waren das ganz glückliche Umstände. Ich habe von 1985 bis 19 89 das Ensemble am Theater in Altenburg geleitet. Das war meine erste Stelle als Ballettdirektorin. Ich habe dort so viel ausprobieren und lernen können in allen Bereichen: In Ensembleleitung, in der Arbeit in Schauspiel, Musical, Oper, Operette und in der Kreation eigener Tanzstücke. Und insofern war ich voll beschäftigt und habe das System Stadttheater ausschöpfen können. Ich stand im Studio mit 16 Tänzern, jeden Tag bis spät abends, in gewisser Weise in einem abgeschotteten Raum. Das heißt natürlich nicht, dass ich unabhängig gearbeitet habe und nichts gemerkt habe vom Leben in der DDR und der sich verschärfenden Situation.
Aber für mich als Künstlerin war es ein Tempel des Ausprobierens. Als ich nach den 4 Jahren gespürt habe, ich stehe künstlerisch in der Sackgasse und habe das Ende erreicht, da war nun genau der Bruch, die Wende kam. Es war für meine Biografie eine absolut glückliche Fügung. Diese Kraft, diese Begeisterung im Neuanfang und in den Möglichkeiten, die ich plötzlich vor mir sah, die habe ich eben mit vollen Zügen eingesogen.
Ich war nie jemand, der sich an Bestehendes klammert. Das Neue war für mich immer reizvoll, öffnete neue Möglichkeiten. Ich habe mitgekriegt, klar es gibt Tanztheater! Es gibt auch Tanztheater innerhalb eines Schauspielhauses. Reinhild Hoffmann in Bochum. Da dachte ich, genau das muss es sein für mich! Ich hatte schon seit meiner Studienzeit eine Affinität zum Schauspiel und habe die Initiative in die Hand genommen. Bin ins Schauspielhaus gegangen und habe dem Intendanten gesagt, ein Tanztheater ist für sein Theaterhaus jetzt nötig, wenn er die Zeichen der Zeit erkennen will. Körper und Schauspiel und Tanz und TanzTheater ist die neue Theaterform.
Ich hatte einfach ein wahnsinniges Glück, das Tanz-Theater im Schauspiel Leipzig dann auch etablieren zu können mit viel Kraft und Lust und Wollen… So hatte ich weitere 8 Jahre Arbeit in einem geschützten Raum, wo ich mich künstlerisch ausprobieren konnte und zu Hause war. Das ist so toll, diese Kontinuität, die ein Stadttheater einem jungen Künstler bietet: die Bühne, die technischen Möglichkeiten und das Ensemble. Auch der Zwang zu erfinden, immer wieder neue Premieren herauszubringen. Diese Erfahrungen haben mir einen sicheren Boden bereitet für meine weitere künstlerische Arbeit, ich konnte meinen Rucksack füllen.
Und deine Tänzer, dein Ensemble, dass du dann in Leipzig gegründet hast, wo kamen die her? Waren das noch Tänzer aus der ehemaligen DDR oder war das gleich international?
Diese Internationalität hat sich bei uns ganz langsam entwickelt. Das war ja überhaupt nicht im Denken. Es war jetzt plötzlich ein Deutschland, die Grenzen waren offen, und dann musste erst mal eine Orientierung her. Und die Orientierung suchten die Tänzer, die 1991 gleich zu mir gekommen sind. Sie wollten etwas anders machen als das klassische Ballett. Werner Stiefel, Christina Brückner, die als Solisten an der Leipziger Oper in „Schwanensee“ die Hauptrollen getanzt hatten. Das ist eben auch so eine fantastische Wendung. Anne Bergel, die aus damals Karl-Marx-Stadt kam und sagte, endlich, ich will was anderes! Sie konnten diesen Impuls mit mir zusammen ausnutzen.
Diese TänzerInnen haben ganz klar die Ästhetik meiner Tanzstücke bestimmt. Wie stark, dass habe ich erst jetzt bemerkt während der Digitalisierung der Videoaufzeichnungen von damals. In Leipzig kam für mein Ensemble 1996 eine große Veränderung. Ich hatte auf einmal überwiegend internationale TänzerInnen. Nun entstanden Stücke mit völlig anderen Qualitäten. Die tiefste Erkenntnis während der Rückschau auf meine Stücke für mich war: Plötzlich war das Pathos verschwunden! Dieser extreme Ausdruckswille, den wir als Tänzer in der DDR hatten, der so stark geprägt war von „wir sind Menschen und wir wollen unser Menschsein, unser moralisches Handeln in den Figuren auf der Bühne sichtbar machen“. Diese Expressivität war plötzlich weg. Es ging nun viel stärker um verschiedene Körperlichkeiten, um die choreographische Qualität ohne direkten Handlungsbezug, um das Verhältnis des Körpers im Raum und so weiter... und damit wuchs ... das muss ich schon sagen, auch die Ausdruckskraft und die Intensität der Inszenierungen, weil plötzliche meine Ideen als Choreographin auf einen anderen Boden fielen. Diese Öffnung forderte auch das Publikum auf, selber stärker einzutauchen und Ungewohntes zu entdecken.
Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt: meine Stücke so aufmachen für die Zuschauer, dass diese ihren eigenen Weg durch das Tanzstück finden, dass sie dazwischen kommen mit ihren Gedanken. Aber dennoch muss ich so viel Futter liefern, soviel sinnliches Futter, dass man sich von der Aufführung in den Bann gezogen fühlt, wohlbehalten, und nicht in Leere verloren geht.
Das ist auch etwas, dass sich jetzt in der Retrospektive wiederfindet. Diese verschiedenen Tänzer mit den verschiedenen Körperlichkeiten?
Ja, es findet sich wieder. Interessant ist, dass wir nicht Stücke rekonstruieren, sondern dass ich auf die Tänzer zugegangen bin und mich mit den Tänzern gemeinsam erinnere an das, was der Arbeitsprozess für sie damals war. Wie sehen sie die Arbeiten aus ihrer heutigen Sicht und was empfinden sie dabei? Das ist für mich das Entscheidende. Eine Rekonstruktion ist nicht ein Hervorholen von Schritten, die wir damals gemacht haben. Wir schauen heute drauf, versetzen uns in die Situation des Entstehens und hinterfragen, was haben wir da gewollt und wie sehen wir das heute. Was hat sich verändert durch all die Erfahrung, die man angesammelt hat. Wie schauen wir auf die Themen unserer Stücke und auf die Choreografien, was ist passiert in der Zwischenzeit?
Wie hast du es geschafft, dich an all diese Sachen zu erinnern? Du hast über 80 Stücke gemacht?
Also das Erinnern ... ich dachte ich schaue in mein Material, was ich jetzt im Tanzarchiv Leipzig habe. Ich lese die Kritiken und ich sehe die Fotos, ich sehe die Namen, die Programmhefte usw. und werde mich erinnern. Und genauso war es auch, aber diese Erinnerung – erstaunlicher Weise ist diese Erinnerung, ja, wie man oft sagt, wenn man ein Foto sieht: man meint, man wüsste wie die Situation gewesen ist. Aber eigentlich erinnert man sich nur an das Foto. Und so ist es auch: Ich sehe das Foto, das kenne ich, und bilde mir ein die Situation zu kennen. Aber ist das so? Das hat mich sehr durcheinander gebracht. Also nicht dieser Weg. Dann bin ich nach Bremen ins Tanzfilminstitut gefahren und hatte dort die Möglichkeit, mein vorhandenes FilmmMaterial zu digitalisieren. Über die Filme, die dennoch nicht die Realität sind, kam ich meinen Inszenierungen näher. Aus meinem zeitlichen Abstand zur Entstehungszeit und wegen der Materialfülle konnte ich eine distanzierte Position einnehmen. Die Verwirrung entstand, wenn ich in die Menschen hinter den Darstellern hineinblicken wollte. Arbeits- und persönliche Situationen überdecken dann das künstlerische Ergebnis.
Ich versuche, mich dem zu entziehen. Dann gelingt es mir einzuordnen und zu sehen, was ist das gewesen und warum, was ist gelungen – nach meinem heutigen Verständnis, was würde ich jetzt wirklich anders angehen. Unerwartet sehe ich auch unglaublich spannende Szenen. Insofern kann man schon über diese filmische Dokumentation sehr stark in die Arbeit eintauchen.
Ich habe plötzlich begriffen, dass Dokumentation auch einen Sinn hat. Meine Haltung war: du arbeitest im Moment mit den TänzerInnen und Zuschauern und suchst den gegenwärtigen Austausch. Wenn diese Zeit vorbei ist, dann ist auch dieser spezielle künstlerische Prozess beendet. Aber um zu reflektieren ist eine Dokumentation von großem Wert. Am besten nur über eine frontale Kamera.
Was denkst du, was passiert mit dir, wenn das vorbei ist? Hast du dann das Gefühll, du hast jetzt deine Arbeit nochmal reflektiert und kannst jetzt anders weiter arbeiten? Denkst das macht in dieser Hinsicht etwas mit dir?
Ich glaube das, ja. Diese intensive Beschäftigung mit dem eigenen Werk konfrontiert mich fortwährend mit mir selbst. Es gibt keinen einzigen Winkel in mir, den ich nicht reflektiere, denn ich bin der Autor meiner Stücke. Das ist wahnsinnig anstrengend. Mein Kopf schwirrt. Ich will mir doch selbst ein Geheimnis bleiben, um weiter aus mir schöpfen zu können.
Zum anderen habe ich so viel Zeit mit dem Erfinden verbracht und nie Zeit in das Reflektieren investiert. Natürlich habe ich jede Vorstellung meiner Stücke gesehen und habe es geliebt, für jede Aufführung wieder zu probieren und Szenen zu ändern. Das war schon ein Prozess der Verarbeitung. Aber mal still zu halten, Abstand gewinnen und dann zu schauen und zu fragen: wo bin ich, was will ich, was ist das gewesen, das fehlte.
Innerhalb des Stadttheaters ist das überhaupt nicht möglich. Eine Raserei von einem Stück zum Nächsten, die Planung zwei Jahre im Voraus. So bin ich auch sehr erstaunt in welchen Zusammenhängen dann tolle Arbeiten entstanden sind, oft unvermutet. Und in welchen anderen Zusammenhängen Arbeiten entstanden sind, die mich heute nicht mehr interessieren.
Ich denke, dass es viel mit mir machen wird, aber ich kann es noch nicht beschreiben, ich weiß nicht, was es genau sein wird.
Um noch einmal zu den Stücken zurückzukommen. Wie hast du dich denn dann jetzt für die Stücke entschieden, die du jetzt für die Retrospektive ausgesucht hast?
Bei 80 Stücken ... Ich dachte an das Zufallsprinzip. Es ergibt einen Sinn, dem ich vertraue. Ich habe zugelassen mich in die Erinnerung an TänzerInnen hinein zu versenken. Wer kam da in meinen Sinn? In dieser Reihenfolge habe ich nacheinander die Leute angesprochen, die ich finden konnte. Leider habe ich viele Kontakte nicht mehr, so schade! Alle die zugesagt haben und zwar sofort, sie, dachte ich, sie sind es. Dann erst kam die Überlegung: wo und wann haben wir gemeinsam gearbeitet, wie hießen die Tanzstücke?
Deshalb gibt es Zeitabschnitte, davon sind plötzlich drei Stücke und dann gibt es Zeitabschnitte von sechs, sieben, acht, neun Jahren, da gibt es kein einziges Stück in der Retrospektive zu sehen. Ein Weglassen und Verdichten... Meine Herangehensweise zeigt, dass die TänzerInnen und DarstellerInnen an dem Prozess der Rekonstruktion und dieser Retrospektive interessiert sind.
Als dann klar war, dass der Fokus auf der Verwendung von Musik im Tanztheater liegt, wollte ich doch wieder leicht eingreifen um zu zeigen, wo ich die wesentlichsten Schritte für mich sah. Aber das ist alles nicht relevant. Das heißt, es ist relevant, aber nicht für die Auswahl. Die wird bestimmt von den Menschen, mit denen ich jetzt zusammenarbeite. Das gefällt mir!
Du hast gerade deinen einen Schwerpunkt erwähnt, den du einwerfen wolltest: die Verwendung von Musik im Tanztheater. Warum ist das für dich so ein Schwerpunkt?
Das hat sich im Laufe dieser 30jährigen Arbeit herausgebildet. Es ist für mich der interessanteste Fakt in der künstlerischen Arbeit geworden: der Umgang mit der Zeit innerhalb meiner Tanzstücke. Oder auch in Workshops. Also wie geht der Tänzer, wie geht der Regisseur, der Choreograph mit der Zeit um?
Wir sprechen von Tanztheater und die Verwendung von Musik strukturiert für mich das Stück: wann und wie gehe ich mit Stille um, welche Musik benutze ich, wann habe ich Soundscapes, wann die menschliche Stimme mit dem gesprochenen Wort oder als Klangfarbe usw. Der Umgang mit der Musik strukturiert das Tanztheaterstück und bestimmt eben auch die Ästhetik des gesamten Stückes. Dabei fragmentieren und montieren wir, arbeiten mit Überschneidungen. Eine Szene muss mit der anderen nichts zu tun haben. Dennoch werden sie sich gegenseitig stark beeinflussen.
Dazu kommt, dass durch das Unterrichten am Carl Orff Institut in Salzburg und die Arbeit mit der Performancegruppe „Das Collectif “ meine Auseinandersetzung mit Musik immer stärker in den Vordergrund gerückt ist.
Wie wir mit der Musik umgehen und welches Verhältnis wir dazu haben ist für mich als Choreographin eben ganz prägend. Und ich freue mich wirklich sehr darauf, den Zuschauer mitnehmen zu können und ihm zu zeigen, wie entscheidend es ist Zeit zu strukturieren. Die Art und Weise der Retrospektive ist in diesem Sinne eine feste Versuchsanordnung, die aber mit jeder Szene aus einem Tanzstück neu hinterfragt wird.
In deiner bisherigen Arbeit hast du schon mit Orchestern zusammengearbeitet, mit Musik vom Band, mit Musikern, mit Komponisten. Mit wem hast du am Liebsten gearbeitet oder was ist deine liebste Arbeitsweise, wenn du an die Musik für ein Stück herangehst?
Es hat alles gegeben. Was überhaupt ganz, ganz schrecklich ist, sind Zuspiele vom Band. Das ist ja ein totes Nebeneinander. Was immer natürlich hervorragend ist, ist wenn du mit Musikern live arbeiten kannst. Obwohl da ein großes Verständnis beidseitig gegeben sein muss, sonst erschöpft es beide Seiten. Die Musiker sollen das Verständnis für den Körper, die körperlichen Impulse, die körperlichen Qualitäten mitbringen. Und die Tänzer sollen sich als Resonanz spüren, was gibt ihr Körper den Musikern zurück.
Wenn du Musiker im Graben hast läuft die Vermittlung über den Dirigenten. So lebendig dann live-Musik klingt, mir fehlt ganz stark die Komponente des Miteinanders. Ich habe schon bei meinen ersten Inszenierungen versucht, das Orchester mit auf der Bühne zu haben, so zum Beispiel beim „Weihnachtsoratorium“ im Schauspiel Leipzig. Eine tolle Möglichkeit damals.
Kompositionen direkt für ein Tanzstück sind die Ausnahmen und besonders interessant. Musik, die auch aus Atmosphären, aus Stimmungen besteht, die für den Tanz so entscheidend ist, weil der selbsterzeugte Rhythmus des Tänzers hörbar und dadurch anders sehbar wird. Aber du trotzdem nicht verzichten musst auf die Wirkung, die du mit der Musik erzeugen willst.
Aus finanziellen Gründen lässt sich diese Zusammenarbeit selten realisieren. Die Verständigung zwischen Komponist und Choreograf ist wichtig. Nicht umsonst hat Merce Cunningham gesagt: Es kann nicht sein, dass ein Musiker komponiert hat und ich tanze darauf. Und John Cage hat gesagt, es kann nicht sein, dass die Tänzer tanzen und ich komponiere hinterher… Für mich ist das Miteinander im Probenprozess wichtig und ergibt die Möglichkeit des gemeinsamen Entstehens. Solche Kunstprozesse sind sehr aufwendig und sehr intensiv, aber einfach ganz großartig.
Gibt es jemanden, der dich beeinflusst hat, oder jemand, dessen Arbeit du sehr schätzt?
Das Schöne ist, es schwankt sehr. Ich schätze Vieles, besonders in Details: es gibt so Momente! Ich gehe so naiv als möglich in Aufführungen und bringe mein Bauchgefühl ein, nicht die Kompetenz, die man sich nun über so lange Arbeitsjahre angeeignet hat. Das funktioniert natürlich nicht! Aber das ist mein Wunsch. So unvoreingenommen wünsche ich mir auch die Zuschauer, wenn sie in meine Stücke gehen. Keine Schubladen, sondern das sie im Moment für das Erleben bereit sind.
Also klar, herausragend war zweifelsohne Pina Bausch, als sie 1987 das erste Mal in die DDR kam. Das war ein Großereignis! Ich weiß gar nicht, ob das heute überhaupt noch nachvollziehbar ist. Wenn man aufgewachsen ist in der DDR und wirklich gar keine Bilder hatte und keine Videos... wie stark wir medial abgeschottet waren...und dann ihre Arbeiten... das kann ich heute mit nichts anderem vergleichen. Ich versuche solche besonderen Momente mit ihrer Wirkung für mich lebendig zu halten.